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Meine Zeit ist endlich oder: Der Weg ist das Ziel

Es ist gar nicht so lange her, da wurde mir bewusst: meine Lebenszeit ist endlich. Nicht, dass das etwas Neues wäre... aber es ist das Eine, etwas zu wissen, es ist etwas Anderes, dasselbe ganz klar für sich zu fühlen.

 

Der größere Teil meiner Zeit auf Erden ist gelebt (glaube ich zumindest), wieviel Zeit mir noch bleibt, weiß ich nicht. Aber diese mir verbleibende Zeit möchte ich bewusst erleben - das war mein erster Gedanke. Interessant ist für mich, dass damit die Zeit im Allgemeinen, meine eigene Zeit im Besonderen eine ganz andere Qualität bekommt: sie ist kostbar und viel zu schade, um sie zu vergeuden. Und das wiederum bringt mich dazu, all das, was ich tue, womit ich meine Tage fülle, auf den Prüfstein zu stellen. Ein bisschen krass, aber ungeheuer wirkungsvoll: wenn ich genau wüsste, ich hätte nur noch eine Woche zu leben, was würde ich noch tun wollen? Was wäre mir unbedingt wichtig? Worauf könnte ich getrost verzichten?

Vera F. Birkenbihl hat "Den Tod befragen" als Strategie Nr. 47 in ihrem Buch "Jeden Tag weniger ärgern" beschrieben (Birkenbihl,Vera F., Jeden Tag weniger ärgern, mvgverlag, 9. Auflage 2013, S. 147 f). Der Fokus liegt da zwar ein wenig anders, denn hier werden "konkrete Tips, Techniken und Strategien" aufgeführt für "effektiveres Ärgern", in der Konsequenz also, um sich WENIGER zu ärgern - ganz gemäß dem Titel des Buches. Im Ergebnis findet sich jedoch eine Fülle von Vorschlägen und Ideen, das eigene Leben ausgeglichener und entspannter zu gestalten.

 

Ich möchte also noch einen Schritt weiter gehen: es ist mir nicht nur wichtig, WAS ich tue, sondern auch WIE ich es tue.

100 Millionen Euro auf meinem Konto, gescheffelt durch unermüdlichen Arbeitseinsatz, nützen mir nicht zum glücklich und entspannt sein, wenn ich weiter gierig und unersättlich nach dem Geld an sich bin. Ich werde mich weiter abrackern...

Tausende von gemachten und erlebten Erfahrungen nutzen mir nicht, wenn ich sie nicht auswerten und integrieren kann. Ich werde wieder und wieder Fehler machen, werde scheitern, an mir zweifeln oder mich gar als Opfer fühlen...

Ein bestimmtes Musikstück spielen zu können oder eine bestimmte Übung reiten zu können wird mich nicht zufrieden stellen, wenn ich nur immer weiter, immer schneller, immer höher, immer besser (als die anderen) sein will. Denn es wird eine nächste Aufgabe geben und eine weitere und noch eine und jedes Mal erhöhe ich den Druck auf mich - und gegebenenfalls auch auf mein Pferd.

Wenn ich mir jedoch erlaube, kreative Pausen einzulegen, mich über meine kleinen Schritte zu freuen und Teilerfolge bewusst wahrzunehmen und zu feiern, dann gehe ich meinen Weg mit großer Eigenmotivation, selbstbestimmt und ganz sicher mit viel Zufriedenheit und Freude. Und welches Endziel auch immer ich mir gesteckt haben mag - es kommt dann gar nicht mehr so ganz darauf an, ob ich es geradlinig erreiche oder mit kleineren oder auch mal größeren Umwegen. Es trifft dann wirklich zu, was wir gern auch mal salopp sagen und was doch eine Offenbarung sein kann: Der Weg ist das Ziel.

 

So weit, so gut. Nun ist es aber so, dass ich mein Leben nicht als Einsiedlerin verbringe. Wir treten als Menschen tagtäglich in Beziehung mit unserer Umwelt, das ist ein wesentlicher Teil unseres Lebens. Von Guy de Maupassant stammt: "Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen." In den Zusammenhang mit der endlichen Lebenszeit gestellt, eröffnen sich weitere interessante und durchaus spannende Fragen: Wer ist mir wichtig? Mit wem möchte ich meine Zeit teilen? Wie und auf welcher Ebene (auf Augenhöhe? auf Abstand? mit Vorbehalt?...) begegne ich dem anderen? Wie möchte ich die gemeinsame Zeit gestalten?

Es geht dann darum, mich selbst in meinem Verhalten, meinen gelebten Werten, meinen Absichten und vielleicht auch meinem Anspruch im Kontext zu meiner Umwelt zu hinterfragen. Denn ich gestalte mit diesen vielfältigen Beziehungen mein Leben, ich habe damit also direkten Einfluss auf meine "Lebens-Qualität" - und auf die Qualität des Lebens meines Gegenübers! Für mich ist das Grund genug, dem anderen (egal, ob Mensch oder Tier) mit Respekt, Achtung, Wertschätzung, Offenheit und auch Demut zu begegnen.

 

Und konkret? Im vergangenen Herbst war ich als Zuschauerin auf einem Kurs bei Bent Branderup und ein Satz bzw. Frage seiner Abschlussrede geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf: "Welcher Mensch möchte ich meinem Pferd sein?" Das lässt sich beliebig variieren: Welcher Mensch möchte ich meinem Partner sein? Welche Mutter möchte ich meinen Kindern sein? Welche Lehrerin möchte ich meinen Schülern sein? Welche Kollegin möchte ich meinen Arbeitskollegen sein?... Ich kann sogar im Dialog mit mir selbst fragen: Welcher Mensch möchte ich mir heute sein?
Damit wird diese Frage ein wunderbares, jederzeit griffbereites Werkzeug bei der Gestaltung meiner Beziehungen, meiner Wünsche und Ziele, meines Alltags... eben meiner wertvollen Lebenszeit.