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Leben

Vor kurzem bin ich an einem Sonntagmorgen meine Runde gelaufen. Bis zum See. Schon von fern waren viele Menschen zu erkennen, beim Näherkommen: mit Fahrrädern. Eine Schar Menschen mittleren Alters, die sich frühmorgens am See getroffen haben, um eine festgelegte Strecke zu fahren, eine Art Parcours. Einfach, um miteinander Spaß zu haben, miteinander zu reden und all die Sorgen für eine Weile zu vergessen. „Wissen Sie, man muss etwas tun, sonst wird man noch ganz kirre im Kopf in diesen Zeiten!“ Da ist was dran..

Sonst bin ich ja die, die gern die Dinge mit sich selbst ausmacht und gern allein ist. Mit den vielen Gedanken im Kopf fühle ich mich selten allein-allein. Und ich halte mich auch für eher gruppenuntauglich und empfinde das Alleinsein daher auch nicht als Strafe. Im Gegenteil. Doch die Menschen an diesem Morgen haben mir gezeigt: Es ist auch gut, einen Rückhalt zu haben. Es ist wichtig, zusammen zu lachen, sich dadurch von ein paar Sorgen zu verabschieden, sich gegenseitig zu stärken, gemeinsam zu versuchen Abstand zu gewinnen von einer Schwermütigkeit, die einen schon mal gefangen nehmen kann, wenn man nur die aktuellen Nachrichten guckt oder hört. Da braucht es sonst nicht viel..

 

Möglicherweise gibt es auch hier eine Dualität, eine Waage, die sich mal mehr auf die eine, mehr auf die andere Seite neigt:

Mir liegt sehr viel daran, zu lernen, mich selbst zu entwickeln, das Leben zu begreifen, dem Sein einen Sinn zu geben, die Dinge zu hinterfragen. Und so setze ich mich immer wieder hin und versuche, Erkenntnisse gedanklich einzufangen, zu verarbeiten und in Worte zu fassen. Dazu brauche ich das Alleinsein, die Ruhe um mich herum, die Möglichkeit, ungestört zu schreiben.

Doch das Leben will nicht nur gedacht und hinterfragt werden. Es will nicht nur betrachtet und gelesen werden. Das Leben will gelebt werden. Mit allen Hochs und Tiefs, mit Lachen und Weinen, traurig sein und fröhlich, mit Wutanfällen und Versöhnen.. mit der ganzen Palette an Gefühlen, die ich zur Verfügung habe. Und eben mit Menschen, inmitten von ihnen, als Teil eines Größeren.

 

Am Abend darauf hatte ich ein Buch in der Hand, das ich mir herausgelegt habe, um es einer Freundin zu bringen. Darin steht in minikleinen Buchstaben in meiner Handschrift von vor rund 40 Jahren mein Name. Eine kleine, fast unsichtbare Handschrift für ein junges, damals sich am liebsten unsichtbar machen wollendes Menschenkind. Meine Handschrift hat sich verändert. Sie ist deutlich größer, schwungvoller, verschnörkelt, mit manchmal bis zur Unleserlichkeit ineinander verschachtelten Buchstaben. Ein bisschen wie ein wettergegerbter Zaun aus abgesplittertem Holz, um das sich eine Brombeerhecke mit Rosen dazwischen rankt. Von weitem sehr hübsch, aus der Nähe betrachtet eine Herausforderung. Meine Handschrift hat sich im Laufe der Jahre verändert. Ich mich auch.

Ich bin erwachsen geworden, habe einen Beruf gewählt, eine Familie gegründet, habe mein Leben mit Erfahrungen und Einsichten gefüllt. Und doch ist das Kind von damals immer noch ein Teil von, ein lebendiger Teil IN mir. Immer noch bin ich die, die begierig lernen will. Immer noch schüttele ich den Kopf wie damals, verstehe ich ganz Vieles nicht und versuche ich, Zusammenhänge herzustellen und zu begreifen. Ich mag erwachsen sein im Außen, im Innern bin ich immer noch auch Kind und ich kann mich unbändig und ausgelassen freuen und ebenso untröstlich traurig sein. Ich kann wütend werden und mich benehmen wie ein Rumpelstilzchen. Widerspenstig. Uneinsichtig. Oder stundenlang still dem Meer zuhören.. im Einklang mit mir selbst und in tief empfundenem Frieden mit allem, was um mich ist.

 

Ich lebe im Fühlen und fühle so das Leben.

 

Mein erwachsenes ICH ist da manchmal ein wenig überfordert und muss dann schon mal Aufräumarbeit leisten. Mich entschuldigen für den Wutausbruch, für die Kaskade an Schimpfwörtern, für die emotionale Wucht, die den Anderen unvermittelt getroffen hat. Oder mich selbst trösten. Ein Pflaster auf die Seele kleben, wenn das Unverständnis im Außen für meine emotionale Befindlichkeit im Innen aufeinanderprallen. Oder strikt dafür sorgen, dass das Innen einen geschützten Platz bekommt und eine Auszeit. Meine erwachsene Handschrift steht wie ein Symbol dafür: der umrankte, mit Stacheln bewehrte Zaun, der etwas schützt, das ich nicht jedem zeigen will, nicht mit jedem teilen kann.

Und trotzdem: Ich brauche und suche Gesellschaft. Doch ich kann inzwischen wählen oder ich versuche es zumindest zu lernen. Die Erwachsene, die ich bin, ist koordiniert und (zumindest meistens) kollisionsfrei in der Lage, mich in der „erwachsenen Welt“ adäquat zu bewegen, höflich Konversation zu betreiben, Entscheidungen zu treffen, den Alltag zu meistern… die Begegnungen greifen da nicht so tief und die emotionalen Wellen schlagen innerlich nicht sehr hoch. Zaun sei Dank!

 

Und dann gibt es wenige Menschen, da ist eine Begegnung auf einer anderen Ebene möglich. Selten. Ihnen kann ich das Tor in meinem umrankten Zaun öffnen, das man sonst gar nicht sieht und ich möchte sie einladen hereinzukommen auf einen gemeinsamen Moment, auf gemeinsam gelebte Zeit, auf gemeinsames Lachen und Weinen, traurig sein und fröhlich… auf gemeinsames Reden und beredtes Schweigen. Ein besonderer Dialog im Fühlen ist möglich, weil die Verbindung eine besondere, eine sehr feine, intuitive ist. Für mich sind es Menschen, die mir auf meinem Lebensweg wie ein Geschenk sind, unendlich wertvoll und manchmal auch ganz unerwartet einfach da. Manche Begegnungen sind ganz kurz und lösen doch ganz viel aus... Andere kommen wie ein Samen hergeflogen, haben Zeit zum Wachsen, bilden Wurzeln in meiner Seele, erobern ein Platz in meinem Herzen und ich freue mich über das Vertrautwerden, das sich-gegenseitig-Anvertrauen, das Bewusstwerden und Zulassen der gegenseitigen Zuneigung und inneren Verbundenheit. Das ist Leben.. nicht einfach, nicht ohne Wunden.. zugleich unglaublich schön, reich an Überraschungen und erfüllend.

 

„Was bedeutet zähmen?“

„Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs.

„Es bedeutet, sich ‚vertraut machen‘.“

„Man kennt nur die Dinge, die man zähmt. Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr.

Wenn Du einen Freund willst, so zähme mich!“

(verkürzt aus: „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry)